CORD MEIJERING COMPOSER

"No man ever steps in the same river twice" (Heraclitus)

Hans Drewanz zum 80. Geburtstag

Hans Drewanz zum 80. Geburtstag

Der Mensch

Als junger Mensch, der die Musik zum Zentrum seines Lebens erwählt hat, ist man auf der Suche nach Halt, nach Orientierung angesichts der Unermesslichkeit des musikalischen Raumes, der man sich bei einigermaßener Aufmerksamkeit gegenübersieht.

Hans Drewanz bietet diesen Halt. Er bietet Verlässlichkeit, Fürsorge, Verbindlichkeit, Maßstab.

Somit steht er all denjenigen Künstlerinnen und Künstlern, denen es um nichts anderes geht als um die Musik und um die mit ihr unlösbar verbundene Humanität, als ein Vorbild für Integrität, künstlerische Unbestechlichkeit, Hingabe und Fürsorge.

Dabei ist er zuallererst ein ganz außergewöhnlicher Musiker. Diese Eigenschaft ist für das Publikum wunderbar, für die Orientierung eines jungen Musikers jedoch von geringerem Interesse, da man sich diese Musikalität nicht zum Vorbild nehmen kann. Sie ist vom Himmel gegeben und entzieht sich der Nachahmbarkeit.

Hans Drewanz wurde, - ohne dass ich ihn fragte, ob er mit der von mir gewünschten und ihm zugewiesenen Rolle einverstanden sei - zu einem meiner wichtigsten Mentoren. Er hat diese Rolle in der ihm eigenen Weise überflüssige Worte zu vermeiden, angenommen. Ich verdanke ihm viel. Er war immer für mich da, wenn ich seiner Hilfe bedurfte.

Hans Drewanz gab mir auf unauffällige, aber eindringliche Weise Maßstab für mein eigenes künstlerisches, pädagogisches und auch menschliches Tun.

Dieser Maßstab hängt hoch.

Noch heute frage ich mich in Situationen des Zweifels: “Was würde Hans Drewanz dazu sagen?” - “Wie würde Hans Drewanz entscheiden?”

In der Regel sagt er nicht viel. Er ist ein stiller, zurückhaltender Mensch, wenn es um die Darstellung seiner eigenen Person geht. Geht es jedoch um die Sache der Musik, um die Würde der Menschen oder um andere wichtige Dinge des Lebens, dann meldet Hans Drewanz sich ruhig, aber unüberhörbar zu Wort. Das musikalische oder politische Gegenüber ist in diesem Fall mit einer Unbestechlichkeit konfrontiert, zu der auf lange Sicht nur die Integrität in der Lage ist.

Hans Drewanz stellt seine Kraft und Intelligenz in den Dienst der Musik und somit seiner Mitmenschen. Niemals benutzt er die Musik zur Darstellung seiner eigenen Person.

Unsere Zusammenarbeit möchte ich gerechterweise als seine Arbeit für mich ansehen, - für mich als einen Vertreter der jüngeren Generation, der gegenüber er eine Verantwortung lebt (verspüren tun sie auch andere). Ich könnte zahlreiche Beispiele nennen, möchte mich jedoch auf einige wenige beschränken.

Der Mentor

Es war irgendwann im Januar 1986, als ich zum erstenmal Hans Drewanz traf. Damals war er der Generalmusikdirektor des Darmstädter Staatstheaters. Ich hatte ihn besucht um ihm einige meiner Kompositionen vorzustellen.

Am Ende dieses Gespräches sagte er, dass er sich bei der Stadt Darmstadt um einen Kompositionsauftrag für mich bemühen werde. "Ich schlage vor, dass Sie schon mal mit der Arbeit an dem neuen Orchesterstück beginnen. Am Mittwoch, den 12. November 11:30 Uhr werde ich Sie dann anrufen und Ihnen mitteilen, ob ich wegen des Auftrages etwas erreicht habe". Nachdem noch kurz über Umfang und Besetzung des zu komponierenden Stückes gesprochen worden war, verabschiedeten wir uns und ich verließ das Theater.

Meine Aufregung war groß: Das mir soeben entgegengebrachte Vertrauen schien mir in keiner Weise gerechtfertigt. Würde ich es dennoch schaffen und dem an mich soeben gestellten Anspruch wenigstens einigermaßen gerecht werden? Ich hatte da meine Zweifel.

Aber die Freude war riesengroß! Ich hatte soeben die Gelegenheit bekommen, eine Musik für den von mir so verehrten Dirigenten Hans Drewanz und das Orchester des Darmstädter Staatstheaters schreiben zu dürfen. Es erschien mir unwirklich, eine Geschichte wie im Traum erlebt.

Wird das alles wirklich stattfinden? - Ich hatte nichts Schriftliches, nur eine mündliche Verabredung ...

Von diesen Zweifeln bewegt verbrachte ich den Sommer und frühen Herbst mit der Arbeit an meiner ersten Sinfonie.

Von Hans Drewanz hatte ich seit unserem Gespräch im Januar nichts mehr gehört.

Dann jedoch - am Mittwoch, den 12. November 11:30 Uhr - klingelte mein Telefon. Es war Hans Drewanz. Mit wenigen Worten teilte er mir mit, dass der Kompositionsauftrag von der Stadt Darmstadt an mich vergeben worden sei, wann das Orchestermaterial vorliegen müsse, wie die Proben terminiert sind und dass die Uraufführung am 25. Januar 1987 stattfinden werde.

"Wird das alles wirklich stattfinden? Ich hatte nichts Schriftliches, nur eine mündliche Verabredung..." - Ich schämte mich meiner sommerlichen Zweifel.

Dann begannen die Proben. Zunächst war ich erstaunt darüber, dass für meine Komposition mehr Proben angesetzt waren als für Beethovens Klavierkonzert c-Moll und die Mathis-Sinfonie von Hindemith. Gewöhnlich achten Dirigenten - um ihrer selbst willen - streng darauf, dass die Werke, die beim Publikum bekannt sind, am besten studiert werden.

Im Zusammenhang mit den Proben erinnere ich mich an folgende kleine Anekdote: Hans Drewanz sagte: "Beginnen wir in Takt X beim Fis". Einer der Musiker wendete ein "Verzeihung in Takt X steht bei mir F, nicht Fis". Hans Drewanz entgegnete "Bei Ihnen steht in Takt X ganz sicher Fis. Ich weiß es. Ich habe das Orchestermaterial selbst vor Probenbeginn kontrolliert und gesehen, dass bei Ihnen Fis steht". Der Musiker erwiderte "O, Verzeihung, ich habe mich im Takt geirrt. Jetzt sehe ich, dass auch bei mir Fis notiert ist".

Im weiteren Verlauf erlebte ich eine ungeheuer musikalische, aufregende, kompetente und für mich lehrreiche Probenarbeit, in die Hans Drewanz mich durch mehrfaches kritisches Nachfragen und durch Änderungsvorschläge einbezog.

Bei der Uraufführung lernte ich Christiane Drewanz, die Ehefrau von Hans Drewanz kennen. Sie bemerkte sogleich, wie unsicher ich mich angesichts dieses für mich so ungewohnten Ereignisses fühlte und half mir, mich zurechtzufinden. Auch Christiane Drewanz ist ein außergewöhnlich fürsorglicher und umsichtiger Mensch mit einem sehr feinen Gespür für die sie umgebende Welt. Noch oft sollte ich in meinem weiteren Leben - auch in schweren Situationen - von ihrem Rat und ihrer Tat profitieren.

Im Laufe der nun seit der Uraufführung vergangenen 22 Jahre gab es immer wieder Anlässe, für die ich Hans Drewanz zu großem Dank verpflichtet bin, seien es die Uraufführung meiner 2. Sinfonie im März 1992, seine Unterweisungen anlässlich meiner Bemühungen die Aufführungen der an der Akademie für Tonkunst von Jugendlichen komponierten Kinderoper DIE KLEINE MEERFRAU selbst zu leiten, seine kritische Durchsicht meiner Oper FEUERGESICHT, oder auch seine Ratschläge und Unterstützung bei für mich wichtigen beruflichen Entscheidungen.


Der Musiker - Das Metrum

Sehr oft schon hatte ich Gelegenheiten, Hans Drewanz als Dirigent zu erleben, sei es bei Opernaufführungen und den Sinfoniekonzerten des Darmstädter Staatstheaters, sei es bei mehrfachen Besuchen im Theater Bern, sei es auf alten Tonbändern oder auf modernen CDs. Es fällt mir daher schwer, aus diesen vielen schönen Erlebnissen eine Auswahl zu treffen um darüber zu berichten. Ich versuche es dennoch.

Unvergesslich sind mir zum Beispiel die Aufführungen von Gustav Mahlers 3. und Franz Schuberts 9. Sinfonie im Staatstheater Darmstadt.

Mahlers Dritte studierte ich Mitte der Achtziger Jahre, einem Hinweis meines damaligen Kompositionslehrers Hans Werner Henze folgend. Er sagte uns Schülern: "Das ist Mahlers schönste Sinfonie. Schaut: welch ein Klanggebäude er aus so wenigen Noten bauen konnte!"

Dieses Werk - das begreift man bald - ist nicht aus dem Notentext allein erfassbar, selbst wenn man eine Schallplattenaufnahme zu Hilfe nimmt. Es bedarf der Darstellung im Raum.

Etwa acht Jahre nach Henzes Hinweis hatte ich Glück: Die Theatervorschau des Konzertjahres 1992 annoncierte die Aufführung von Mahlers 3. Sinfonie unter der Leitung von Hans Drewanz für den 27. und 28. September im Großen Haus des Staatstheaters Darmstadt. Ich besorgte mir eine Karte und besuchte das Konzert.

Was ich dann erlebte, überstieg in seiner klanglichen Dimension alles bisher Gehörte. Unter den Händen von Hans Drewanz entstand dieses etwa neunzigminütige Werk zu einem gewaltigen Klanggebäude. In keiner Sekunde ließ die Energie nach. Es war wie eine Wanderung durch ein musikalisches Hochgebirge mit den faszinierendsten Aussichten auf bis dahin nie gehörte Schönheiten, und man selbst war eingeladen, der Wanderer, der Verzauberte, der tief Ein- und Ausatmende auf dieser langen Strecke zu sein.

Das Konzert war dann doch irgendwann vorüber. Was war mit einem geschehen? Was haben Mahler, Hans Drewanz und sein Orchester mit einem gemacht? Wie gelang es Hans Drewanz, diese riesigen Dimensionen zu überschauen und zu gestalten. Ich stand vor einem mich tief berührenden und faszinierenden Geheimnis. Es sollte sich später herausstellen, dass es sich wirklich um ein Geheimnis - heißt: nicht um ein Rätsel -handelte. Ein Rätsel lässt sich lösen, und mit der Lösung ist der Zauber vorbei. Ein Geheimnis birgt unendlich viele Geheimnisse. Immer wenn man es lüftet, erscheint dahinter ein neues, das einlädt weiterzusuchen.

Einige “Vorhänge” dieses Geheimnisses habe ich seitdem gelüftet. Geholfen hat mir dabei wiederum ein Hinweis Hans Werner Henzes im Jahre 1984: “Du solltest Dich dringend um Metrum und Rhythmus kümmern.” Ich folgte diesem Rat viele Jahre lang bei meiner täglichen Arbeit. Nachdem die Untersuchungen am Anfang zu immer komplizierteren Ergebnissen führten und ich nach langer Zeit des Komplizierter-Werdens schließlich ermüdete, stellte ich resigniert mein Nachdenken über Metrum und Rhythmus ein. Nach einem weiteren halben Jahr plötzlich kam eine Idee daher: Ich hatte den Fehler gemacht, die Musik für mich berechenbar machen zu wollen anstatt sie hörend zu betrachten und ihren Gesetzen mit meinen Gedanken nachzugehen. Nicht die Musik hat dem Komponisten zu folgen, sondern der Komponist der Musik. Plötzlich erkannte ich die magische, spirituelle Kraft die sich zwischen Himmel und Erde entfalten kann, wenn die Gravitationskraft, die Sprungkraft und die Schwungkraft ihre Energien im kontrollierten Metrum tanzend entfalten. Das Metrum trägt uns durch das musikalische Meisterwerk, ist der Sparring-Partner dieser Energien, macht alles leicht.

Diese Erkenntnisse waren zwar schöne Gedanken, blieben aber für weitere Jahre blosse Theorie. Genauer gesagt, bis zu einem Konzert, das ich am 1. Februar 2005 unter Hans Drewanz im Kleinen Haus des Darmstädter Staatstheaters erleben durfte. Auf dem Programm stand unter anderem die 9. Sinfonie in C-Dur von Franz Schubert, ein Werk von etwa siebzig Minuten Dauer. Bereits nach wenigen Takten war der Bann geschlagen. Wieder geschah etwas ganz Außergewöhnliches. Ich erinnerte mich an Mahlers Dritte. Auch heute gab es eine Wanderung durch musikalisches Hochgebirge mit Blicken auf ein zauberhaftes Klang-Panorama. Ich hörte auf das Metrum und die auf dieses Metrum bezogenen Rhythmen, Klangfarben und melodischen Energieverläufe. Alles tanzte. Alles war leicht und gut, - so wie Friedrich Nietzsche es sagte: “Das Gute ist leicht, alles Göttliche läuft auf zarten Füßen.”

Wie schwebend verließ ich diesen Konzertabend. Auch ein großes, 300 Gramm schweres Holzfäller-Steak mit geschmelzten Zwiebeln und Hausfritten, das ich im Anschluss im nahegelegenen Darmstädter City-Braustüb’l verspeiste, konnte daran nichts ändern. Ich fühlte das Schweben noch bis in den Schlaf hinein.

Wenige Tage später traf ich den Solo-Klarinettisten des Orchesters, Michael Schmidt. Ich schwärmte ihm vor und er berichtete, wie sehr Hans Drewanz bei den Proben auf die Einhaltung des Metrum geachtet hatte, da aller Ausdruck nur in Verbindung mit dem Metrum sich wirklich entfaltet.

Dank Hans Drewanz Konzert mit Schuberts Großer C-Dur-Sinfonie hatte ich das Glück zu erleben, dass sich meine seit langen Jahren gehegten musikalischen Gedanken mit der tatsächlich erlebten und vom Klingen ausgelösten Empfindung verbinden konnten, - oder, wie Thomas Mann es in seiner Erzählung DER TOD IN VENEDIG sagt: Glück des Schriftstellers ist der Gedanke, der ganz Gefühl, ist das Gefühl, das ganz Gedanke zu werden vermag. Solch ein pulsender Gedanke, solch genaues Gefühl gehörte und gehorchte dem Einsamen damals: nämlich, daß die Natur von Wonne erschaure, wenn der Geist sich huldigend vor der Schönheit neige.”

Hans Drewanz ist ein maßvoller Mensch, ein maßvoller Musiker, ein Mensch und ein Musiker, der um die spirituelle Kraft eben dieses Maßes, dieses Metrums weiß und damit der Musik zu ihrer eigentlichen Ausdruckskraft verhilft, - der Kraft, die Seelen der Menschen zu erheben.


Coda

Hans Drewanz ist ein großer Künstler, ein bedeutender Lehrer und ein wunderbarer Mensch!

Und ein ebenso wunderbarer Mensch ist Christiane Drewanz. Auch sie ist eine mir viel bedeutende Lehrerin in ganz zentralen Fragen des Lebens. Ich habe oft gute Gespräche mit ihr gehabt, ihren Rat erhalten und dadurch Vieles von ihr lernen dürfen.

Christiane und Hans Drewanz sind Menschen, die nicht nur eine Verantwortung gegenüber ihren Mitmenschen verspüren, sondern die diese auch übernehmen und sie dauerhaft tragen. Dafür sei ihnen auf das Herzlichste gedankt!

Ich wünsche ihnen beiden Gesundheit und außerdem Freude an der Welt und an all den von ihnen geliebten Menschen.


Cord Meijering